Mestre Bimba mit dem Berimbau
Das Logo der Gruppe von Mestre Cascudo
Von der Verbannung zur weltweiten Popularität
Einst Verteidigung der Sklaven, heute eine Lebensschule. Die Bedeutung von Capoeira in Brasilien ist immens. Eine Reportage.
Von Rico Wüest
Ein schwarzer Fels mit Oberarmen wie Oberschenkel steht vorne im Saal mit blankem Betonboden und zählt mit harter Stimme: „um, dois...“. 60 bis 70 schwarze Beinchen in weissen Tenus schwingen sich durch den heissen Saal, Beinschläge im Akkord. Es ist Capoeira-Training in Lençois, Bundesstaat Bahia, Brasilien.
Wädenswil, Kanton Zürich, Schweiz: Fünfzehn junge, weisse Menschen in weissen Tenus stehen in einem Kreis auf dem grauen Mattenboden der Zivilschutzanlage und halten ein kleines Buch in der Hand. Der Lehrer blickt skeptisch in die Runde und fragt: „Was meint ihr, könnt ihr das Lied von letztem Mal noch?“. Dann beginnt er rhythmisch in die Hände zu klatschen, und der Kreis beginnt zu singen, portugiesisch.
Weit oben im kleinen Dorf Lençois am Rande des Nationalparkes Chapada Diamantina befindet sich der Trainingsraum, unbeschriftet und kaum auffindbar, versteckt in den steilen, staubig schmalen Gassen, wo das Geld fehlte für einen Belag oder Pflastersteine, wo die Häuserfassaden heruntergekommen oder blanke Bachsteinmauern sind, die Kleider der Kinder alt und gebraucht - weit weg vom Wirtschaftswunder Brasilien.
Capoeira als Status
Neben dem schwarzen Felsen steht ein kleines, stämmiges Männlein, sichtlich über 50 und ohne Haare, unscheinbar, mit schielenden Augen, einem roten Gürtel um die Hüfte und mit weichem Gesichtsausdruck. Still und mit verschränkten Händen hinter dem Rücken spaziert er durch die keuchenden Reihen, und sein bescheidener, aber majestätischer Auftritt lässt erahnen: Er ist der Mestre, der Meister der Schule.
Sein hoher Satus im Dorf, sein Übername „Mestre", die vielen Winke von der anderen Seite der Strasse sind ein Zeichen für die Bedeutung von Capoeira in Brasilien. Wer leidenschaftlich Capoeira praktiziert, bezeichnet sich mit grossem Stolz als „Capoeirista“, ein Ausdruck, der normalerweise für einen Beruf, so wie „Jornalista“, steht.
Capoeira als Sozialprojekt und Lebensschule
Die Schule von Mestre Cascudo existiert nur deshalb, weil der Meister nach wie vor seinem Beruf als Maurer nachgeht und alle Lehrpersonen auf ehrenamtlicher Basis unterrichten. Den monatlichen Mitgliederbeitrag von fünf Franken bezahlen nur jene, die es sich leisten können. Und es sind die Wenigsten. Wer Capoeira auf die wohlhabende Oberschicht beschränken und beharrlich auf Mitgliederbeiträgen bestehen will, der steht in einem leeren Saal. Capoeira im armen Nordosten Brasiliens funktioniert nur als Sozialprojekt.
Denn gerade durch seinen kämpferischen Charakter und seine Geschichte der Unterdrückung zieht es besonders Kinder und Jugendliche aus den sozial benachteiligten Schichten an, jene - und zwar unabhängig von Geschlecht - welche in Kriminalität, Gewalt und Drogenhandel abzudriften drohen und nur wenige glorreiche Aussichten haben in einem Land mit extremsten sozialen Ungleichheiten und rund 50'000 Morden jährlich. Anstatt sich auf der Strasse zu schlagen, messen sie sich im Capoeira-Unterricht, oder, wie Mestre Bimba 1970 sagte: „Es ist besser, sich in der Roda zu schlagen als auf der Strasse“.
Hier verwandeln sie ihre Aggressionen und Frustrationen in eine kreative Dynamik, entwickeln Körperkontrolle und steigern ihr Selbstwertgefühl in einem Sport, der weder Sieger noch Verlierer kennt. Gleichzeitig erlernen sie einen respektvollen Umgang, erfahren Aufmerksamkeit, Zuneigung und Wertschätzung - Erfahrungen, die für viele Kinder im oft rauhen Familienalltag Fremdwörter sind. Nicht selten hört man von Capoeiristas, die die Kampfkunst zu ihrem Lebensinhalt gemacht haben: "Ich verdanke es Capoeira, dass ich nicht auf den falschen Weg gekommen bin."
Capoeira als Spannungsfeld
Voll und heiss ist der Saal, die Kinder treten sich gegenseitig auf die Füsse, es wird tüchtig geschwitzt und immer wieder gelacht. Dann klatscht das Männlein in die Hände, zeigt mit seinem ausgestrecktem Arm zum Boden, zeichnet mit dem Finger einen Kreis und murmelt: "Roda" (Rad). Die Schüler und Schülerinnen bilden freudig und rasch einen sitzenden Kreis, vier Jugendliche greifen zu den Instrumenten - zum Saiteninstrument Berimbau, zu den Trommeln Pandeiro und Atabaque - und stimmen stehend ein Lied an: „Manchmal nennen sie mich Neger, denken, dass sie mich demütigen...“.
Zwei Capoeiristas springen mit einem Salto in die Mitte des Kreises und eröffnen den Kampf, oder, wie sie es in Brasilien nennen: das Spiel ("o jogo"). Während sich schnelle Beinschläge aus der Drehung mit flinken Ausweichmanövern und akrobatischen Sprüngen abwechseln, verlieren sich die beiden Spieler keinen Moment lang aus den Augen. Der ganze Kreis klatscht rhythmisch in die Hände und singt aus voller Kehle den Refrain. „...doch was sie nicht wissen: Es erinnert mich nur daran, dass ich von dieser Rasse stamme, die für die Befreiung gekämpft hat...“.
Wuchtige Beinschläge fliegen zentimeterknapp vor der Nase des Mitspielers vorbei, wer falsch reagiert, riskiert das ungewollte K.O. Der Berimbau-Spieler singt laut die Zeilen weiter: „die aus einem Tanz einen tödlichen Kampf gemacht hat...“
Ziel des Spieles ist nicht, den Mitspieler zu treffen, sondern ihm sein eigenes Können zu demonstrieren und plötzlich mit einem angedeuteten Tritt oder Wurf aufzuzeigen, wie und wann der Todesstoss im Ernstfall erfolgt wäre. Capoeira ist Spiel, freudig freundschaftlich, und doch schwingt in jeder Roda auch die Energie des ernsthaften Kampfes latent mit. Der Faden ist hauchdünn und es kommt vor, dass eine 'Strassen-Roda' - zum Beispiel durch einen unbeabsichtigten Treffer - in die Ernsthaftigkeit kippt und Capoeiristas oder Gruppen handgreiflich getrennt werden müssen. Capoeira fasziniert und fesselt geradezu durch diese vibrierende Spannung.
Zwei Jugendliche, die vor der musizierenden Gruppe niedergekniet sind, deuten mit einer Handbewegung in Richtung Kreismitte an, dass sie bereit für das Spiel sind. Die beiden bisherigen Capoeristas umarmen sich kurz und verlassen die 'Roda', während sich die beiden anderen bereits mit akrobatischem Kunststücken synchron in die Mitte schwingen.
Und während sich Spieler und Gesänge allmählich abwechseln, wiederholen sich Rythmus, Trommelschläge und die scheppernden Klänge des Saiteninstruments derart monoton, dass die Roda, welche einerseits als modern akrobatische Show daherkommt, gleichzeitig an uralte afrikanische Rituale erinnert. Auch von der Trance scheint sie nur ein dünner Faden zu trennen.
Capoeira als kulturelle Identität
Die Lieder sprechen von Capoeira, von Bahia, und: von der Sklavenzeit. Capoeira entstand im 18. Jahrhundert auf der Basis verschiedenster afrikanischer Tänze und Kulte der Sklaven, die sich gegen die Sklavenhalter zu wehren hatten. Die Musik und Gesänge dienten dazu, den eigentlichen Zweck von Capoeira als Verteidigungskampf zu verschleiern und den Sklavenhaltern ein afrikanisches Musik-Ritual vorzugaukeln.
Nach der Abschaffung der Sklaverei entwickelte sich Capoeira zu einer Art Strassenkampftechnik. Capoeiristas taten sich in Banden zusammen, den Maltas, und beherrschten ganze Strassenviertel in den Hafenstädten Rio de Janeiro, Recife und Salvador. Sie bewachten Personen oder Lokale und handelten meist im Auftrag einer politischen Partei. Für den Krieg gegen Paraguay im Jahre 1865 wurde ein ganzes Bataillon von Capoeiristas zwangsrekrutiert.
Auf Grund seiner Geschichte hat Capoeira gerade heute eine immense Wichtigkeit in Brasilien. In einem Land, das immer noch stark von Rassismus geprägt ist, wo die Grenze zwischen arm und reich durch die Hautfarbe gezogen wird und der Traum vieler Schwarzen eine hellere Hautfarbe ist, weil diese für Reichtum und Erfolg steht, dient Capoeira zur Überwindung von Minderwertigkeitsgefühlen durch die Entwicklung eines Stolzes über die eigene Hautfarbe und Herkunft.
Noch heute wissen viele Nordestinos, Brasilianers des Nordostens nicht, dass Afrika ein Kontinent und nicht ein Land ist, obwohl ihre Urgrossväter von Afrika nach Brasilien verschifft wurden. Im Leerraum zwischen der vergessenen Geschichte und dem Klammern am Traum eines wohlhabenden Lebens im Überfluss, das durch Werbung und ökonomischen Aufschwung prophezeit wird, jedoch für den Grossteil der Menschen – besonders im armen Nordosten - nach wie vor nur Utopie bleibt, ist Capoeira für die afro-brasilianische Bevölkerung weitaus mehr als eine Kampfkunst: es ist ein Mittel zur Identitätsfindung und eine Verbindung zu den eigenen kulturellen Wurzeln.
Capoeira als Lebensgefühl
Die Trommelschläge werden schneller und schneller, die Energie steigt, es wird noch lauter gesungen, beinahe geschrieen, Beine und Füsse wirbeln wild durch die Luft, dann ein lauter Schrei, ein Trommelschlag und Stille. Die beiden Spieler verlassen die Mitte mit einer herzlichen Umarmung, der Mestre ruft „samba de roda“, und der Trommler schlägt einen wirren und schnellen Rhythmus, ein Mädchen und ein Junge bewegen sich tanzend und mit breitem Lachen zur Mitte des Kreises hin, wo sie Rücken an Rücken ihre Samba-Schritte steppen. Aber der Junge wird bald aus dem Kreis gedrängt: ein anderer tänzelt bereits in den Kreis und verpasst ihm einen sanften, seitlichen Hüftstoss. Aber auch dessen Sekunden sind gezählt.
Es wird getanzt und gefeiert, so freudig und leidenschaftlich, dass das Ende noch weit entfernt scheint. Und auch in Wädenswil werden die Hüften geschwungen. Denn was wie ein improvisiertes brasilianisches Tanzfestchen aussehen mag, ist ein offizieller Teil von Capoeira: Samba de Roda.
Capoeira ist zu brasilianisch, um nur harte Disziplin und Lebensschule zu sein. Capoeira ist Lebensfreude und Lebensgefühl, das durch seine Mischung aus Kampf, Musik und Tanz derart einmalig ist, dass es trotz seiner nationalspezifischen Geschichte die Herzen weit weg von Brasilien zu erobern weiss. Doch was in Dutzenden von Ländern eine unterhaltsame Sportart unter vielen anderen ist, hat in seinem Ursprungsland eine weitaus tiefere Bedeutung. An ein Brasilien ohne Capoeira ist nicht mehr zu denken.
Die Kinder in ihren farbigen Stoffgürteln um die Hüfte wechseln die Art des Schlags, wiederholen ihn synchron und zehn Mal pro Seite: Meia Lua, ein Beinschlag mit Körperdrehung. Jeder Angriff, jedes Ausweichmanöver und jede Akrobatik hat seinen eigenen Namen. Es war Mestre Bimba, der Begründer des modernen 'Capoeira Regional', der 1932 die erste Academia de Capoeira, die erste Capoeiraschule errichtete, Bewegungen mit Namen bezeichnete und regelmässigen und systematischen Unterricht einführte. Ab nun gab es verschieden farbige Gürtel, die analog zum Karate für unerschiedliche Könnensstufen stehen und an den Anlässen der Batizados (Taufen) in einer Art Prüfung errungen werden. Hinzu kamen die ‚grupos‘, Gruppen, die wie im Kung Fu eine Meister-Linie repräsentieren, untereinander den Zusammenhalt pflegen und sich durch Name und Logo von anderen Gruppen unterscheiden.
Wädenswil: Die Bücher werden geschlossen, Lehrer Canario ergreift das Wort und bricht die Stille: „Ich muss euch mitteilen, dass ich ab heute und vorübergehend keine neuen Schüler oder Schülerinnen in unsere Gruppe aufnehmen werde. Wir sind zu viele“. Capoeira - eine Mischung aus Kampfkunst, Musik und Tanz - hat längst auch die Schweiz erobert.
Inzwischen beginnt auch in Wädenswil die Roda. Lehrer Canario – ein Schweizer irgendwo zwischen 30 und 40 - formt den Kreis und verteilt die Saiteninstrumente. Seine Schule gehört der „Grupo Uniao“ an, der grössten und ältesten Capoeira-Gruppe in der Schweiz, 1985 vom Brasilianer Mestre Omar in einem Wohnzimmer in Baden gegründet, heute eine Organisation, die Capoeira in 13 Schweizer Städten an Hunderte von Schüler und Schülerinnen unterrichtet. Tendenz: steigend.
'Roda de Capoeira' auf dem Dorfplatz von Lençóis - Akrobatik und Show sind Teil der spektakulären Kampfkunst
In den 70er und 80er Jahren wurde Capoeira zum Exportschlager nach Amerika und Europa. Die grösste Gruppe „Abada Capoeira“ ist inzwischen in 42 Ländern auf allen fünf Kontinenten vertreten und zählt 35'000 Anhänger. Die Popularität von Capoeira ist heute höher denn je.
Canario stimmt das Lied an,nun kommt der Trommelschlag, bald der Refrain.
Der Tanz als freudiger Abschlusse einer Roda de Capoeira - hier eine 'Samba de Roda' in Singapur
Capoeira als Phänomen
Inzwischen hat auch die brasilianische Regierung die Wichtigkeit von Capoeira anerkannt. 2008 bezeichnete das Kulturministerium Capoeira als Kulturerbe Brasiliens und gab einen Nationalplan zur Erhaltung und Förderung von Capoeira in Auftrag (Pro-Capoeira).
Doch was heute an Popularität nur schwer zu überbieten ist, war in der Geschichte meist nur im Geheimen zu praktizieren. In der Republik ab 1889 war es gar durch einen Paragraphen gesetzlich verboten. Wer Capoeira praktizierte, musste mit einer Verbannung von sechs Monaten bis zwei Jahren rechnen. Erst 1937 wurde Capoeira durch den nationalistischen Diktator Getulio Vargas wieder legalisiert, der sich tief beeindruckt über die Vorführungen von Mestre Bimba zeigte und Capoeira geradezu als einzigen Nationalsport Brasiliens bezeichnete.
Dennoch: Bis in die 90er Jahre wurde Capoeira seinen diskriminierenden Ruf als randständige und gewalttätige Aktivität der Schwarzen nicht los. Es ist unter anderem seinem Erfolg im Ausland zu verdanken, dass es heute zunehmend an Popularität und gesellschaftlicher Anerkennung in breiten Teilen der brasilianischen Bevölkerung geniesst und nebst Fussball zur wichtigsten Nationalsportart Brasiliens geworden ist.
Galt es vor 30 Jahren noch als marginaler Strassenkampf und Ausdruck von fehlender Kultur, so wird es heute landesweit in Privatschulen und Fitnesscentern angeboten und begeistert mehr und mehr auch die Oberschicht. Im Studiengang Sport an den Universitäten zählt Capoeira inzwischen als Pflichtfach.